"Die Leute sind überzeugt, daß auch ich ein Spion bin. Und da sie die Sache nicht anzufassen verstehen, so beschuldigen sie mit Vorliebe andere der Spionage."

Fjodor Dostojewskis (1821-1881) Romanheld Nikolai Stawrogin in "Die Dämonen"

 

 

Überall Spione

Russlands paranoide Jagd auf "ausländische Agenten"

Justitia ohne verbundene Augen
Justitia in Russland ist nicht blind - und folgt meist den Vorgaben der Staatsmacht

Die Liste ist lang, und sie wird mit jeder Woche länger: Rocksängerin Semfira steht darauf, ebenso der mäßig lustige Komiker Maxim Galkin, der im Exil lebende Ex-Oligarch Michail Chodorkowski genauso wie der linke Publizist Boris Kargalizki oder der populäre Videoblogger Ilja Warlamow. Alle werden von den russischen Behörden ganz offiziell als "ausländische Agenten" gebrandmarkt - mit drastischen Folgen für ihre Bürgerrechte. Zusammen mit dem nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 neu eingeführten Straftatbestand der "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" hat sich das Register der "Auslandsagenten" als tragisch effektiv erwiesen, um regimekritische Stimmen und in Russland weitgehend verstummen zu lassen. Die von Anfang an schwammigen Kriterien zur Aufnahme in die Liste sind mit der Zeit kompletter Willkür gewichen.

Genau davor hatten regierungskritische Kräfte in Russland bereits 2012 gewarnt, als das russische Parlament dem Wahnsinn die Tore öffnete: Damals tauchte der Begriff "ausländischer Agent" nach einer Änderung des Vereinsgesetzes erstmals im russischen Rechtssystem auf. Diese offizielle Einstufung war anfangs für gemeinnützige Organisationen vorgesehen, die Geld aus dem Ausland erhielten und gleichzeitig politisch aktiv waren. Hintergrund war die vermutete Rolle westlich finanzierter NGOs bei den "Farbrevolutionen" in Ländern wie Georgien, Jugoslawien oder der Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt war ein Großteil der russischen NGOs auf Fördergelder und Spenden aus dem Ausland angewiesen, was sie potenziell in eine riskante Lage brachte.

Russlands Staatsmacht versuchte zwar, die Auswirkungen kleinzureden: Es handele sich um ein gesetzliches Analog zum US-amerikanischen Foreign Agents Registration Act, lediglich um eine Registrierung und keinesfalls um ein Tätgkeitsverbot. Doch schon bald wurden viele renommierte Nichtregierungsorganisation zu "Auslandsagenten" erklärt. Bekannte Opfer der Agentenjagd wurden beispielsweise die älteste russische Menschenrechtsorganisation Memorial, Alexej Simonows "Stiftung zur Verteidiung von Glasnost", die Kaliningrader Umweltschutzorganisation "Ecodefense!", aber auch das unabhängige Meinungsforschungsinstitut von Juri Lewada oder der Extremismus-Monitoringdienst "Sowa".

 

Medien-Agenten

Tatsächlich konnten die zu "Auslandsagenten" erklärten Organisationen anfangs weiter arbeiten, aber der neue rechtliche Status brachte erhebliche Einschränkungen: Häufige reguläre und unangekündigte Kontrollen durch alle möglichen Behörden gehörten dazu ebenso wie die Pflicht, alle öffentlichen Publikationen mit einem Hinweis auf den "Agentencharakter" zu versehen, kombiniert mit ruinösen Strafen für Verstöße. Für Aktivisten erhöhte sich mit der Einstufung ihrer Vereinigung als "ausländischer Agent" zudem das Risiko, Opfer von Übergriffen militanter russischer "Patrioten" zu werden. Eine umfassende Zusammenstellung der Folgen des "Agentengesetzes" für NGOs und zum damaligen Zeitpunkt mögliche Überlebensstrategien hatte bereits 2016 Darja Skibo für die "Länderanalysen Russland" zusammengestellt.

Auf den Geschmack gekommen, verschärften die russischen Behörden die Regeln dann immer weiter. Ab 2015 gab es die neue rechtliche Kategorie der in Russland "unerwünschten Organisation", die nach Ansicht der Staatsmacht ein Risiko für das Landeswohl darstellten. und denen jegliche Tätigkeit im Land untersagt wurde (in dieser Kategorie landeten beispielsweise die Soros-Stiftung und ein Grünen-naher transatlantischer Think Tank aus Deutschland). Als die US-Behörden sich 2017 an ihr eigenes Agentengesetz erinnerten und den russischen Auslandssender Russia Today zwingen wollten, sich in das amerikanische "Agentenregister" einzutragen, reagierten die Russen spiegelbildlich: Sie weiteten ihre Auslandsagenten-Regelung auf Medien aus, anfangs nur auf von ausländischen Staaten betriebene, etwa die US-Sender "Voice of America" und "Radio Liberty". Dann kamen jedoch auch auf oppositionelle russische Medien wie das in Russland verbotene Internetportal Meduza oder der regierungskritische TV-Sender Doschd auf den Index.  

 

Hatz auf Blogger und Tierschützer

Vollends eskalierte der Einsatz des Agentengesetzes als Waffe gegen jegliche Gegner des Kreml-Kurses 2020, als die "Agentenliste" auch um  Einzelpersonen erweitert werden konte. Nun begann die Staatsmacht, Journalisten, Blogger und Oppositionspolitiker ganz persönlich zu drangsalieren. 2022 alle Repressalien in einem eigenen Auslandsagenten-Gesetz zusammengefasst. Darin werden auch die Beschränkungen für "Auslandsagenten" weiter perfektioniert (Details z.B. bei Meduza, Russisch). Einzelpersonen mit Agenten-Status ist der Zugang zu politischen Ämtern verbaut, sie dürfen keinen Zugang zu vertraulichen oder geheimen staatlichen Informationen erhalten und nicht in Wahlkommissionen mitwirken. Juristische Personen müssen sich alle drei Monate auf eigene Kosten einer externen Rechnungsprüfung unterziehen. Russische Medien, die über anerkannte Agenten berichten, müssen den Status in jedem Bericht erwähnen (Anforderungen auf der Webseite der russischen Medienaufsicht Roskomnadsor, Russisch)

Als es schon so aussah, als könnten die Repressalien nicht noch härter werden, schufen Russlands Gesetzgeber noch den rechtlichen Status von Personen, die unter dem Einfluss von Auslandsagenten stehen. Die Kriterien für eine Einstufung als "Agent" wurden zugleich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine immer skurriler: 

2023 erwischte es etwa die russische Gliederung der internationalen Naturschutzorganisation WWF, die lange Zeit selbst staatliche russische Fördergelder erhalten hatte und einst von Staatschef Putin in den allerhöchsten Tönen für ihr vorbildliches Engagement gelobt worden war (s z.B. Meldung der Staatsagentur Ria Nowosti, Russisch). Unter dem "Vorwand", sich für Umweltschutz einzusetzen, würden staatliche Industrie- und Infrastrukturprojekte behindert, hieß es nun in der Begründung des Ministeriums (zitiert nach Kommersant, Russisch): "Der Fond verbreitete negative Informationen über die von staatlichen Stellen gefassten Beschlüsse und deren Politik."

Um beim Justizministerium als vom Ausland finanziert in die Liste aufgenommen zu werden, reichte es im Zweifelsfall aus, wenn die "Agenten" Einnahmen mit der Monetarisierung von Youtube-Videos erzielen. So erging es dem populären Blogger Juri Dud oder dem Journalisten Alexej Piwowarow mit dessen Online-Nachrichten-Projekt "Redakzija". Allerdings ist inzwischen ein legaler Grund für die Listung bereits, vom Ausland "beeinflusst" zu sein - wenn sich der repressive Staatsapparat überhaupt noch die Mühe macht, seine Schritte zu begründen.

 

Dies musste beispielsweise Darja Besedina erleben, eine tapfere Abgeordnete der kleinen liberalen Oppositionspartei Jabloko im Moskauer Stadtparlament. "Das Justizministerium hat mir keinerlei offizielles Papier zugesendet oder irgendwo veröffentlicht, wessen Agentin ich bin", schrieb sie Monate nach ihrer Aufnahme in die Agentenliste auf ihrer Webseite (Russisch). "Ich erhalte keinerlei ausländische Unterstützung oder Einkünfte, werde von niemandem beeinflusst. Und ich bin sehr neugierig, wie sie versuchen werden, das Gegenteil zu belegen."

Einigen Organisationen ist es zwischenzeitlich gelungen, wieder von der Liste gelöscht zu werden. Viel mehr haben indes die Arbeit aufgegeben (eine Übersicht über die aufgelösten NGOs u.a. bei Holod, Russisch) . Viele "Auslandsagenten" sind mittlerweile auch unfreiwillig ins Exil gegangen. Manche, etwa der Journalist und ehemalige "Echo Moskaus"-Chef Alexej Wenediktow, sind geblieben und versuchen, trotz des diskreditierenden Labels weiterzuarbeiten. Manche Buchläden versuchen auch weiterhin, Publikationen der vermeintlichen Agenten zu verkaufen, dafür müssen die Bücher Berichten zufolge mittlerweile vor der Auslage in den Regalen in undurchsichtige Folie eingeschweißt werden (Bericht Kommersant, Russisch).

 

Paranoia auch im Westen

Im Westen sorgt das russische Auslandsagenten-Gesetz seit Jahren für Empörung. Dabei breitet sich die dahinter stehende Geisteshaltung auch in der EU längst immer weiter aus. In Deutschland versuchen seit Jahren Medienaktivisten, "Experten" und immer wieder auch Stimmen aus der Politik zusammen mit Heerscharen kriegstrunkener Social-Media-Trolle alle zu diskreditieren, die Kritik an der hoffnungslos verfahrenen Russland- und Ukraine-Politik der westlichen Regierungen äußern. Mittlerweile werden sogar Gewerkschafter, die für die Rechte ihrer Mitglieder kämpfen, als Handlager des Kremls beschimpft - weil ein Streik in Kriegszeiten schließlich nur Moskau nutze. Leider ist diese Freund-Feind-Propaganda in Teilen durchaus erfolgreich. Und auch eine Initiative von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen zur "Verteidigung der Demokratie" gegen ausländische Einflussnahme weckt unangenehme Assoziationen. Über 200 NGOs kritisierten die Pläne bereits in einem Brandbrief (Bericht z.B. bei Euractiv).

Am schlimmsten ist es jedoch in den osteuropäischen Nato- und EU-Staaten. So soll eine von der nationalistischen PiS-Regierung in Warschau eingesetzte staatliche Kommission Polens politische Landschaft nach Personen durchforsten, die unter "russischen Einfluss" stehen (Bericht z. B. beim ZDF). Noch weiter ging der russophobe tschechische Staatspräsident Petr Pavel. Er regte im Juni 2023 eine Überwachung sämtlicher russischen Bürger in der EU durch die Sicherheitsbehörden an. In einem Interview mit dem amerikanischen "Radio Liberty" (Englisch) zog er dabei Paralleln zur US-Regierung, die während des Zweiten Weltkriegs Einwanderer aus dem damals verfeindeten Japan internieren ließ. Sonderlicher Protest gegen diese Gedankenspiele war bislang nirgendwo zu vernehmen.

 

kp, aufgeschrieben am 16.6.2023


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