Russland und der neue Nahost-Krieg

Pogrom am Flughafen von Machatschkala
Judenfeindliche Ausschreitungen in Südrussland (Foto: Dagestanisches Regional-TV)

Ausgerechnet in der womöglich kompliziertesten Region der Welt war Moskaus Diplomaten lange Zeit ein echtes Kunststück gelungen: Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb Russland

zeitweise die wohl einzige Macht, die gute Beziehungen zu allen Konfliktparteien im Nahen Osten unterhielt. Enge Kontakte gab es gleichermaßen zu Israelis, Arabern und dem Iran, zu konservativen Monarchen wie zu säkularen Regimen. Nicht einmal Moskaus Parteinahme im syrischen Bürgerkrieg zugunsten des damals selbst in der arabischen Welt isolierten Assad-Regimes konnte dies ändern. Doch nach dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel Anfang Oktober 2023 zeichnet sich ein Schwenk in der russischen Nahost-Politik ab. Der brutale neue Krieg um Gaza lenkt zwar die Aufmerksamkeit westlicher Hauptstädte weg von der Ukraine, aber er birgt für Russland auch erhebliche Risiken.

Eine einheitliche Haltung zum Nahost-Konflikt gibt es in Russland nicht - weder im Pro-Putin-Lager, noch unter Oppositionskräften. Zum Teil ist dies durch den multiethnischen und multireligiösen Charakter des Landes bedingt.

Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Menschen im Land machen sich Sorgen um Verwandte und Freunde, die als sowjetische Juden nach Israel ausgewandert sind. Sogar Wladimir Solowjow, einer der übelsten TV-Propagandisten des Kremls, erklärte in seiner Sendung (zitiert nach Lenta.ru, Russisch): "Ich bin jetzt 60 Jahre alt. Aber wenn Russland nicht eine militärische Spezialoperation durchführen würde (gemeint ist der Ukraine-Krieg), dann würde ich jetzt nach Israel reisen, weil die Juden aus aller Welt dorthin kommen, um nach dieser schrecklichen Tragödie ihr Volk zu verteidigen." In den traditionell muslimischen Regionen Russlands gibt es derweil viel Sympathie für die Palästinenser. So warf der Mufti der russischen Tataren-Republik, Kamil Samigullin, beispielsweise Israel einen Völkermord an den Palästinensern und Nazi-Methoden vor (Bericht Tatar-Inform, Russisch). 

 

Juden in der Flugzeugturbine gesucht

Am 29. Oktober 2023 wurde dann schlagartig klar, welche Sprengkraft der Nahostkonflikt auch für Russland selbst  hat - und zwar ausgerechnet in Dagestan, einer muslimisch geprägten Teilrepublik am Kaspischen Meer mit seinen unvorstellbar großherzigen und gastfreundlichen Menschen. Dort stürmte ein judenfeindlicher Mob (Augenzeugenberichte bei Mediazona) den Flughafen der Hauptstadt Machatschkala. Zuvor hatten sich im Internet Gerüchte verbreitet, mit einer Maschine aus Tel Aviv würden zahlreiche Israelis versuchen, vor dem Gewaltausbruch nach Russland zu entkommen. Die russische Staatsmacht mit all ihren hochgerüsteten Sicherheitskräften war dem Mob hilflos unterlegen, Bilder vom Rollfeld, wo aufgehetzte junge Männer idiotischerweise selbst in einer Flugzeugturbine nach Juden suchten, gingen durch die Welt. Am Flughafen entstand erheblicher Sachschaden, mehrere Menschen wurden verletzt.

Die Reaktion des Staates blieb vergleichsweise milde. Bereits kurz nach der Sturm des Flughafens waren einige Teilnehmer zu jeweils wenigen Tagen Arrest verurteilt worden. Das erscheint sehr großhrzig vor dem Hintergrund des Umgangs mit Gegnern des russischen Kriegskurses in der Ukraine - die jegliche Form von öffentlichem Widerspruch für Jahre hinter Gitter führen kann. Die wahrscheinlichste Ursache dafür ist keineswegs, dass Moskau die Unruhen bewusst provoziert hat und gutheißt, sondern dass die Staatsmacht letztlich die Reaktion seiner muslimischen Bürger fürchtet - vor allem in Dagestan. 

 

Ein Staat von Stalins Gnaden

Aber auch die Geschichte der Beziehungen zwischen Moskau und den Ländern des Nahen Ostens war in den zurückliegenden Jahrzehnten für manche überraschende Volte gut - und erklärt ein Stück weit das ambivalente Verhältnis von Bürgern und Politik in Russland zum Geschehen im Nahen Osten. So darf der Diktator Josef Stalin mit Fug und Recht als einer der Gründerväter des Staates Israel betrachtet werden: Die Sowjetunion hatte als erstes Land der Welt den jüdischen Staat drei Tage nach dessen Unabhängigkeitserklärung offiziell anerkannt (S. dazu z.B. Martin Kramer, "Who saved Israel 1947, Englisch) und die israelischen Truppen im ersten Krieg gegen die arabischen Nachbarn mit Waffen versorgt. Die Hoffnung, im Nahen Osten einen prosowjetischen Verbündeten zu gewinnen, waren jedoch schon bald verflogen. 

Stattdessen putschten sich in mehreren arabischen Staaten linksgerichtete Militärs an die Macht. Nicht Israel, sondern dessen langjähriger Erzfeind Ägypten unter dem charismatischen Staatschef Gamal Abdel Nasser wurde zur wichtigsten Stütze der Sowjets im Nahen Osten. Nach der verheerenden Niederlage der Araber im Sechs-Tage-Krieg von 1967 hatte die UdSSR sogar die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen. Erst mit Michail Gorbatschow normalisierte sich das Verhältnis. Aber auch das Verhältnis zu Ländern wie Ägypten oder dem Iran durchlebte wechselhafte Phasen enger Kooperation und entschiedener Gegnerschaft. 
 

 

Putins heikler Vergleich mit der Leningrader Blockade

Die russische Staatsspitze hielt sich im Oktober auffällig lange zurück mit einer klaren Verurteilung des Hamas-Terrors. Stattdessen waren aus Moskau eher allgemeine Aufrufe zu hören, die Gewaltspirale müsse durchbrochen werden. Präsident Putin sprach auf einem Gipfel der GUS-Staaten zwar von einem "in seiner Brutalität beispiellosen Angriff" der Hamas auf Israel und räumte ein, Israel habe das Recht, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Gleich darauf zog er aber Parallelen zwischen der humanitären Situation im Gaza-Streifen und der Leningrader Blockade (Bericht RBK, Russisch). Auch er rückte damit das Vorgehen der Israelis in die Nähe eines der fürchterlichsten Verbrechen der Nationalsozialisten, das mindestens eine Million Menschenleben in Putins Heimatstadt gefordert hatte.

Nicht nur mit diesem Vergleich ging Moskau auf deutliche Distanz zu Israel. Noch im Oktober wurde im russischen Außenministerium eine Delegation der Hamas empfangen - offizielles Thema war die Freilassung der in Gaza festgehaltenen Geiseln und die Ausreise russischer Staatsbürger aus dem Kriegsgebiet (Bericht: Nowaja Gaseta Jewropa, Russisch). Israel zeigte sich dennoch erbost.

 

Dividende für den Kreml

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Frühjahr 2022 hatte Israel sich nicht an den antirussischen Sanktionen beteiligt. Offiziell gab es auch keinerlei israelische Waffenlieferungen an die Ukraine. Der damalige israelische Naftali Bennett fungierte in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn stattdessen sogar als Vermittler bei den - von westlicher Seite sabotierten und schließlich gescheiterten - Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau (Ausführlich dazu z.B. Telepolis). Im Gegenzug nahm Russland stets Rücksicht auf israelische Interessen in der arabischen Welt, ließ die Israelis beispielsweise gewähren, wenn sie auf dem Gebiet des Nachbarlandes Syrien proiranische Kräfte bombardierten.

Die Geheimdienste beider Länder arbeiteten bei der Bekämpfung des islamistischen Terrors zusammen. Außerdem zog Israel im Gegensatz zu den USA oder Westeuropäern niemals den kriegsentscheidenden Beitrag der Sowjetunion beim Sieg über den Nationalsozialismus in Zweifel - was für Moskau stets von enormer symbolischer Bedeutung war und ist. Von den komplizierten, aber letztlich pragmatischen Beziehungen profitierten so beide Staaten. 

 

Gute Beziehungen geopfert für die neue Weltordnung

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges könnte auch Russlands Nahost-Politik im Herbst 2023 erneut an einem Wendepunkt angelangt sein. Denn der Ton zwischen den Regierenden in Israel und Russland wird rauer, was nicht zuletzt mehrere Wortgefechte zwischen den beiden UN-Botschaftern belegen. "Russland ist das letzte Land, das uns Lehren erteilen wird", empörte sich Israels Vertreter bei den Vereinten Nationen Gilad Erdan nach heftiger Kritik seines russischen Gegenübers Wassili Nebensja an Israels Besatzungspolitik (Bericht Kommersant, Russisch). Israels früherer Botschaft in Moskau redete gar davon, die Hamas-Kämpfer würden von Russen ausgebildet.

Der russische Nahost-Experte Ruslan Suleimanow sieht Russlands zunehmend israelkritischen Kurs als Folge von Putins Konfrontation mit dem Westen (Diskussionsrunde beim Carnegie Endowment for international Peace, Russisch). In dieser Situation sehe sich Russland unter Zugzwang, "so etwas wie die Rolle des Anführers für den Globalen Süden spielen zu müssen". Es gehe weniger um eine Unterstützung der Hamas, sondern darum zu demonstrieren, dass Moskau an der Seite all jener Völker steht, die nach Kreml-Lesart um ihre Freiheit kämpfen. 

Tatsächlich stilisiert Moskau den Krieg in der Ukraine längst als Teil eines Kampfes um eine neue Weltordnung. In dessen Ergebnis soll die Führungsrolle des von den Amerikanern angeführten Westens ein für alle Mal obsolet werden.

Als Putin im Dezember nach Abu Dhabi reiste, sprühten Militärflieger eine russische Trikolore in den arabischen Himmel, zu seinen Ehren feuerten Kanonen Salutschüsse und eine Reiterstaffel bildete eine Eskorte (Bericht Berliner Zeitung), ähnlich warm fiel der Empfang für den vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesuchten Gast in Saudi-Arabien aus. Zum 1. Januar 2024 sollen gleich vier islamische Staaten des Nahen und Mittlere Ostens dem BRICS-Staatenbund beitreten - neben Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auch Ägypten - und Israels Erzfeind Iran. Nach dem Verständnis der Russen könnte der BRICS-Bund eine spürbare Rolle auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung übernehmen. Die vier Neumitglieder in der Region kommen zusammen auf eine Bevölkerung von fast 250 Millionen Menschen, und sie haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Weltmärkte für Öl und Gas. 

Im Vergleich dazu ist Israel trotz seiner andauernden Verbindungen zur Russland viel zu fest im westlichen Lager verankert und hat, so könnte das kalte Kalkül in Moskau lauten, dann doch vergleichsweise wenig zu bieten. Ob die russische Führung sich mit einer Rückkehr zu einer Freund-Feind-Politik im Nahen Osten einen Gefallen tun würde, ist allerdings eine ganz andere Frage. In der Vergangenheit hat Israel alle ukrainischen Wünsche nach Waffenlieferungen - besonders interessant für Kiew wäre das Raketenabwehrsystem "Iron Dome" - abgebügelt (Bericht "Times of Israel", Englisch). Aber das muss nicht so bleiben.


(Aufgeschrieben am 19.12.2023)


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