"Wenn Du willst, dass sich in hundert Jahren irgendetwas in der Welt ändert, dann fang jetzt sofort an, dafür zu arbeiten. Gottes Mühlen mahlen langsam."

Boris Strugazki (1933-2012), russischer Schriftsteller

 

 

Von echten und falschen Zeitenwenden

Es ist nicht lange her, da bezog sich die Redewendung „vor dem Krieg“ auf Zeiten, die Jahrzehnte zurücklagen. „Vor dem Krieg“ – das war die Bullerbü-Kindheit meiner deutschen Mutter auf einem Bauernhof in Ostpreußen, das waren die vergleichsweise unbeschwerten Vorschuljahre meiner russischen Schwiegermutter in einem Försterhaus irgendwo bei Moskau – bevor die Deutschen kamen. Inzwischen meinen wir ganz andere Dinge, wenn wir von der Zeit „vor dem Krieg“ sprechen. Nur die Erinnerungen voller Nostalgie an eine untergegangene Ära sind ähnlich. 


Alle reden von der „Zeitenwende“, seit Kanzler Scholz sie ausgerufen hat.
Das Bild gefällt den Politikern und den Autoren der Leitartikel - und besonders auch den Rüstungslobbyisten. Dabei ist es in mehrfacher Hinsicht problematisch. 

Es vermittelt den Eindruck, der Horror, den Wladimir Putin am 24. Februar 2022 mit dem Großangriff auf die Ukraine heraufbeschwor, sei aus dem Nichts über Europa gekommen. Und dann soll der Begriff den Deutschen wohl vermitteln, dass nun alles gut und gerecht ist, was am Tag zuvor noch als inakzeptabel galt. Doch beides stimmt nicht.

 

Mit „Zeitenwenden“ kenne ich mich ein klein wenig aus. Denn einmal spielte sich eine direkt vor meinen Augen ab. Kaum einen Kilometer von meinem Elternhaus in Schleswig-Holstein entfernt krachte 1989 über Nacht der Eiserne Vorhang zusammen. Einige Monate später flog ich zum ersten Mal in die Sowjetunion, folgte - wie von den „Scorpions“ empfohlen - der Moskwa flussabwärts bis zum Gorki-Park und traf dabei die Liebe meines Lebens. Diese „Zeitenwende“, die so vielen Menschen Freiheit brachte, hatte einen Urheber – Michail Gorbatschow. Der tragische Held, der sein Land reformieren wollte und es dabei verlor, schaffte Erstaunliches: Zum ersten Mal in der Geschichte des Kontinents hätte ganz Europa in Frieden und ohne Feindschaft leben können.


Seit mindestens 30 Jahren sind die Mächtigen in West und Ost damit beschäftigt gewesen, Gorbatschows Zeitenwende rückabzuwickeln. Es ist ihnen gelungen. Als Putin zum Überfall auf seine Nachbarn in der Ukraine ansetzte, waren die Freundschaftsschwüre jener Zeitenwende längst vergessen und die wichtigen Abrüstungsverträge Makulatur. George Kennan, erfahrener Polit-Stratege in Zeiten der Block-Konfrontation, hatte schon die erste Erweiterungsrunde der Nato als fatalen Fehler gebrandmarkt: „Das ist der Beginn eines neuen Kalten Krieges.“

 

Viele Menschen, die sich mit den Beziehungen zwischen Ost und West befassten, ahnten bereits seit Jahren, dass die Entwicklung irgendwann ein schlimmes Ende nehmen würde - auch die, die noch Anfang 2022 nicht mit einem baldigen großen Krieg in Europa rechneten.

 

Nach meiner Wahrnehmung waren drei historische Wegmarken auf der Rutschfahrt in den Abgrund entscheidend: Als die Nato in ihrem Angriffskrieg gegen Jugoslawien die Bomben auf Belgrad prasseln ließ, verloren die Werte des Westens in den Augen vieler Russen schlagartig ihre Glaubwürdigkeit. Als Putin für weitere Amtszeiten ab 2012 in den Kreml zurückkehrte und sich die Verfassung für seinen persönlichen Machterhalt zurechtbog, war klar, dass Russland sich auf den Weg zurück zur lupenreinen Diktatur aufgemacht hatte. Und als auf dem Kiewer Maidan 2014 der Kugelhagel ominöser Scharfschützen die Ukraine in einen Höllenschlund stürzte, stand fest, wo das Epizentrum des neuen Konflikts zwischen Russland und dem Westen liegen würde.

 
Die Vorgeschichte der aktuellen Katastrophe in den Blick zu nehmen, mindert Putins Schuld an dem derzeitigen Blutvergießen in der Ukraine nicht. Seine Politik zerstört Leben und Gesundheit von Hunderttausenden, vernichtet die Lebenspläne von Millionen und wird traumatisierte Generationen zurücklassen. Aber ein ehrlicher Blick zurück könnte die Augen dafür öffnen, dass in der Ukraine genau genommen drei Kriege gleichzeitig toben – Russlands neoimperialistischer Angriffskrieg, der Stellvertreterkrieg zwischen Nato und Russland sowie bereits seit 2014 ein von Ost und West befeuerter Bürgerkrieg.

 

Mehr-Waffen-für-Kiew-Fraktion beherrscht Talkshows und Kommentarspalten

Längst steht fest, dass weder Russland, noch die Ukraine oder der Westen ihre erklärten Ziele in diesen Kriegen erreichen werden. Es stimmt, dass derzeit keine Kriegspartei verhandeln will und alle weiter vom Sieg daherreden. Dazu hat der brillante Heribert Prantl einmal lakonisch festgestellt: „Man kann und soll Verhandlungsbereitschaft auch herbeiverhandeln. Dieser Plan ist viel aussichtsreicher als der Plan, Frieden herbeizubomben.“ (Kommentar für NDR.de) Genau das versuchen bereits viele Staatsmänner aus anderen Teilen der Welt, nur nicht die Europäer - die Regierenden der westlichen Welt haben wenig getan, um den Krieg zu verhindern und so gut wie nichts, um ihn zu beenden.

Eigentlich müsste auch überall im Westen – wo ehrliche Debatten im Gegensatz zu Russland oder zur Ukraine noch nicht verboten sind – allerorts darum gerungen werden, wie die Ukraine vor der Zerstörung gerettet und der Frieden in Europa wiederhergestellt werden könnte. Doch wir erleben das Gegenteil. Entgegen aller Vernunft beherrscht die Mehr-Waffen-für-Kiew-Fraktion unangefochten und weitgehend ohne Widerrede Talkshow-Runden und Kommentarspalten.


Dabei gibt es im Grunde genommen für ein „Weiter so“ genau ein einziges Argument: Sinngemäß lautet es, Putin sei der neue Hitler, der militärisch besiegt werden müsse, damit er nicht ein Land nach dem anderen überfällt. Deutsche Leitmedien haben dieses Bild so oft gebetsmühlenartig wiederholt, bis niemandem mehr auffiel, dass es dafür keine Belege gab und gibt. Nur die Gleichsetzung mit dem Dritten Reich bietet zudem eine Entschuldigung dafür, dass deutsche Politiker anderen Kriegen und anderen Kriegstreibern in der jüngsten Vergangenheit eher achselzuckend zuschauten (wenn sie nicht wie ein Friedrich Merz nach dem amerikanischen Überfall auf den Irak am liebsten gleich selbst mitgemacht hätten (s. z.B. Archiv Rheinische Post).


Lange herrschte in Deutschland ein gesellschaftlicher Konsens, die deutschen Menschheitsverbrechen nicht mit Untaten anderer zu relativieren – aus gutem Grund. Dass dieser Konsens aufgekündigt wurde, ist ein besonders unappetitlicher Kollateralschaden der ukrainischen Tragödie. Der industrielle Massenmord der Nationalsozialisten an Juden, Sinti und Roma und behinderten Menschen, aber eben auch der blutrünstige Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Völker der Sowjetunion sind und bleiben historisch beispiellos. Genau aus diesem Grund hätte es niemals wieder Bilder deutscher Panzer mit aufgemaltem Balkenkreuz aus der Ukraine geben dürfen.

 

Die Idee, Russland „ruinieren“ zu wollen, ist inzwischen so omnipräsent, dass sogar die Empathie für die Opfer des Krieges Schritt für Schritt verloren geht. Wenn Personen wie Bundespräsident Steinmeier Streubomben auf den Wiesen und Feldern der Ukraine gutheißen (s. Bericht Zeit Online) oder "Experten" darüber nachdenken, wie man nach der Rückeroberung der Krim die dortigen Russen vertreiben könnte, mögen sie dafür ihre Gründe haben. Das Wohlergehen der Ukraine gehört nicht dazu. Medien und Öffentlichkeit sollten diese Heuchelei nicht tolerieren.

 

Von denjenigen, die es in der Debatte wagen, nach Verhandlungen zu rufen, ist häufig zu hören, man müsse Putin einen Ausweg aus der selbst verschuldeten Sackgasse ermöglichen, damit es nicht zu einer atomaren Eskalation kommt. Das ist nicht ganz verkehrt, aber zu kurz gegriffen. Längst steckt auch der Westen in einer Sackgasse: Zu viele Milliarden wurden verausgabt, zu viele unhaltbare Versprechen wurden gemacht. Es steht unvergleichlich mehr auf dem Spiel als in Afghanistan, wo eine falsche Politik erst nach 20 Jahren Kriegseinsatz mit dem fluchtartigen Abzug der westlichen Streitkräfte korrigiert wurde – und das verwüstete Land sich selbst überlassen blieb.

 

Schäbiger Tiefpunkt der ohnehin glücklosen Diplomatie

Verantwortungsvolle Politik müsste darauf abzielen, ein Minimum an Vertrauen herzustellen, um dann nach und nach die aus heutiger Sicht noch unlösbar scheinenden Konflikte beizulegen. Wie dies gelingen könnte, hat der ehemalige OSZE-Diplomat Wolfgang Sporrer skizziert (z.B. in einem Interview mit dem Münchner Merkur): Lange vor einem Waffenstillstand oder gar einem Frieden lassen sich in jedem Konflikt immer einzelne Themenfelder finden, bei denen Kriegsparteien gleiche Interessen haben. Dies gilt auch in der Ukraine. Zur Abwicklung von Gefangenenaustauschen und über Sicherheitsgarantien für ukrainische Getreideexporte redeten beide Seiten bereits fortlaufend miteinander. Weitere Themen, etwa der Schutz des besetzten Atomkraftwerks Saporischschja vor einem unbeabsichtigten nuklearen Desaster, könnten folgen.

 

Ein neuer Anlauf zur dauerhaften Überwindung von Kriegsgefahr und Blockdenken wird hingegen wohl noch viel schwerer als in den 1960er- und 1970er-Jahren. Denn im Unterschied zu damals sind jetzt bewusst fast alle zwischenmenschlichen Kontakte zerschlagen worden, es gibt kaum noch Plattformen für irgendeinen Austausch. In Russland ist wegen gesetzlicher Repressalien jede Form von staatlich nicht gebilligter Zusammenarbeit mit Ausländern riskant. Die EU hat mit ihren Sanktionen nicht nur die meisten Wirtschaftskontakte untersagt, sondern sogar Wissenschaftler- oder Sportler-Treffen. Vom Westen verhängte Verbote und Schikanen machen selbst Familienbesuche über den neuen Eisernen Vorhang hinweg in vielen Fällen unmöglich. Das erinnert inzwischen immer mehr an den Mauerbau - nur, dass die Mauer dieses Mal von westlicher Seite errichtet wurde. Dieser fatale Irrweg wenigstens müsste schnell korrigiert werden, stattdessen müssen wir uns aber vorerst an ein Europa gewöhnen, in dem EU-Staaten ungehindert sogar die komplette Sperrung von Grenzen betreiben können.

 

Für die Zeit nach dem Krieg scheint der Kontinent momentan ohnehin nicht reif zu sein. Ich zweifle, dass echte Änderungen möglich sind, ehe die heute Herrschenden und Regierenden abgewählt wurden oder abgetreten sind. Die Ukraine wird dann im besten Fall einem  geteilten Trümmerfeld ähneln wie Korea 1953. 

 

Kurz vor seinem Tod musste Gorbatschow noch miterleben, wie eine Mischung aus Machtgier, Bösartigkeit und Inkompetenz sein Erbe in Trümmer legte. Dass die Bundesrepublik, die ihm unendlich viel verdankt, zu seiner Trauerfeier keinen einzigen offiziellen Abgesandten aus Deutschland anreisen ließ, bildete den schäbigen Tiefpunkt der zuletzt ohnehin wenig überzeugenden deutschen Diplomatie. Trotzdem gilt: Irgendwann werden die Menschen in Europa die Trümmer wieder zusammenfegen. Und dann werden sie sich vielleicht noch einmal an den großen Reformer mit dem markanten Feuermal auf der Stirn und an seine Zeitenwende erinnern.

 

kp


Dieser Text entstand ursprünglich für einen Sammelband von Hermann Theisen und Helmut Donat, der vor einigen Wochen aus dem Druck kam und in dem die beiden Herausgeber deutsche Stimmen zum Ukraine-Krieg und der neuen Ost-West-Konfrontation gesammelt haben. Insgesamt über 50 Autoren, darunter Margot Käßmann, Jochen Cornelius-Bundschuh, Heribert Prantl, Christoph Butterwege und Franz Alt  haben daran mitgewirkt. Für den Rhein-Wolga-Kanal ist mein Beitrag im Januar 2024 leicht aktualisiert worden.

Buchinfos:
"Bedrohter Diskurs: Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg"

Band 52 der Schriftenreihe Geschichte & Frieden

Herausgeber Hermann Theisen, Helmut Donat

Donat Verlag, Bremen, 2024

ISBN 3949116214, 9783949116216

368 Seiten


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